Das Auge, die Hand und ihr Verhältnis zueinander sowie richtiges Sehen sollen uns heute beschäftigen. Es ist nämlich ein Irrtum anzunehmen, dass Du nur mit der Hand zeichnest. In erster Linie zeichnest Du mit dem Kopf, dann mit den Augen und ganz zum Schluss erst mit der Hand. Zugegeben, so richtig ist "Zeichnen" erst das harmonische Zusammenspiel von Gehirn, Augen und deiner Hand. Didaktisch ist es allerdings vorteilhaft, diese drei Bereiche einzeln zu betrachten, daher unterscheide ich sie bei dieser Übung zunächst voneinander. Ist Dir erst einmal bewusst geworden, dass alle drei Bereiche beim Lernen gleich wichtig sind, dann machst du schneller Fortschritte und der Lernerfolg beim Zeichnen stellt sich rascher ein.
Nun aber von der Theorie zur Praxis und Übung für richtiges Sehen! Nimm zunächst Platz an deinem Zeichentisch und zwar mit drei Bleistiften oder auch mehr. Dabei solltest Du darauf achten, dass der Zeichentisch eine gute Beleuchtung hat. Ein DIN-A-3 Blatt - es darf auch gerne größer sein - liegt vor Dir.
Jetzt kommt der Sprung ins kalte Wasser! Fang an ein Haus, einen Baum und ein Auto zu zeichnen, besser ausgedrückt, starte einen Versuch. Ganz schnell wirst Du merken, es geht nicht oder das Ergebnis ist nicht so, wie du es Dir vorgestellt hast. Ohne das Ergebnis Deiner Bemühungen zu sehen, kann ich dir sagen: So toll war das nicht. Woher ich das weiß? Würdest Du hier lesen, wenn du begeistert von deinen Zeichenversuchen wärst? Wohl kaum.
Das klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber der Knackpunkt. Zweifellos hast du vage eine "Idee" im Kopf, wie die perfekte Zeichnung aussehen soll. Das kann dich einerseits motivieren, überhaupt erst anzufangen, andererseits wirst du dadurch innerlich blockiert. Erst durch Erfahrung entwickelt sich die Kunst, und Erfahrung gibt es nicht ohne Wiederholung. Mit anderen Worten: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und Übung macht wirklich den Meister. Und dazu gehört richtiges Sehen.
Wenden wir uns wieder der Übung für richtiges Sehen zu. Schau dir noch einmal dein eigenes Produkt an. Ein Haus, ein Baum, ein Auto. Die hast Du nach Deinen Vorstellungen aus der Erinnerung gemalt. Oder noch nicht einmal das. Du hast irgendetwas gemalt, was als Klischees von Haus, Baum oder Auto irgendwo in Deinem Erinnerungsarchiv abgespeichert war. Mit Deiner erlebten Wirklichkeit hat das nun mal so gar nichts zu tun. Kein Wunder, dass Du unzufrieden bist und das Ergebnis Dich anödet. Richtiges Sehen will geübt werden.
Jetzt sind wir gleich beim nächsten Problem: Was gehört denn zu meiner erlebten Wirklichkeit? Und was ist denn eigentlich in der Kunst meine persönliche Handschrift, mein "Stil"? Auf diese Frage haben selbst erfahrene Künstler nicht gleich eine Antwort parat, wie solltest Du sie als Anfänger beantworten können? Wenn es als den richtigen oder falschen Stil nicht gibt, gibt es folglich auf diese Weise keine Kriterien, die Dich beim Zeichnen weiterbringen. An dieser Stelle kommt die Natur ins Spiel, nach der Du, wie die meisten, anfängst zu zeichnen.
Auch wenn diese Übung recht schnell geht, solltest Du sie in Ruhe angehen. Schau Dir ohne Eile noch einmal ganz genau Dein Bild an und versuche, Dir darüber klar zu werden, warum Du überhaupt zeichnen lernen willst. Erinnere ich an die Abziehbilder, über die wir gesprochen haben. Höchstwahrscheinlich willst Du aus dem Grund zeichnen lernen, um genau diese Abziehbilder oder Bild-Klischees in Deinem Kopf zu überwinden. Du bist auf der Suche nach eigenen, individuellen Kriterien für eine "gelungene" Zeichnung. Etwas mehr als 15 bis 20 Minuten musst Du für diese Übung veranschlagen.
Nach Kopf und Hand, über die ich schon gesprochen habe, sind jetzt die Augen an der Reihe. Feste Kriterien für "richtiges" Zeichnen liefert uns die Natur. Wir bekommen feste Anhaltspunkte an die Hand, was richtig und was falsch ist durch die Natur. Dieses Richtige oder Falsche können wir sehen und dann benennen. Das "Studium der Natur" steht dabei seit Jahrhunderten beim Erlernen des Zeichnens an erster Stelle. Und dazu gehört richtiges Sehen.
Um die Natur zu sehen, benutzen wir unsere Augen. Doch dabei kommt uns immer wieder das Gehirn dazwischen. Was ist denn nun richtiges Sehen? Denn das Gehirn "sieht" anders als das Auge und liegt mit ihm in einem ständigen Wettkampf. Jedes von beiden hat eine andere Sicht auf die Wirklichkeit und will uns diese Sicht als die jeweils "richtige" vermitteln. Man könnte es so ausdrücken: Je realistischer eine Zeichnung ausfällt, umso mehr hat das Auge sich durchgesetzt, behält das Gehirn die Oberhand, kommt irgendetwas anderes dabei heraus. Das Auge hat dabei ein spezielles Hindernis zu überwinden: Bevor es mit seiner Sicht in unserer Hand ankommt, muss es erst einmal durch das Gehirn hindurch. Um sich und seine Sichtweise in die Hand zu bringen, muss das Auge also zunächst einmal das Gehirn ausschalten. Also muss für richtiges Sehen erst einmal der Kopf ausgeschaltet werden.
Am Anfang solltest Du Dich aber erst einmal voll auf das Auge konzentrieren. Dazu gibt es folgende Übung:
Richtiges Sehen fängt mit dem Gegenstand vor Dir an. Betrachte deinen Arbeitsplatz bzw. deine Arbeitsumgebung. Sieh Dir die Dinge an, die sich vor Dir befinden. Das können irgendwelche CDs sein, eine Vase, ein Kissen, etc. Als nächstes suchst Du Dir dort bei den Gegenständen irgendeinen beliebigen Mittelpunkt. Das heißt, irgendeine Stelle, an der sich Dein Auge festsetzt. Dann nimmst Du Dein Blatt Papier, zeichnest einen Punkt in die Mitte und beschreibst dazu in Worten den zuvor ausgesuchten Mittelpunkt, etwa "Oberkante vom Kissen". Nach der Übung kannst Du die Wörter ja wieder wegradieren.
Als nächstes nimmst Du wieder Dein Blatt Papier und zeichnest in jede der vier Ecken einen Punkt. Wenn Deine Aussicht auf Deine Arbeitsumgebung auf dem Blatt Papier vor Dir abgebildet werden soll, welche Gegenstände befinden sich dann in den vier Ecken? Analysiere Deine Umgebung auf diese Weise und zeichne dann einfach das was Du siehst in das jeweilige Eck. Leg den Fokus hierbei zunächst auf Gegenstände mit einfachen Formen und zeichne sie ab.
Von den Ecken kehrst Du zurück zum Mittelpunkt. Auch hier zeichnest Du genau um den Mittelpunkt herum, was Du siehst. Lass Dich nicht davon irritieren, dass Dir das Ergebnis "schief" oder falsch vorkommt, sondern zeichne einfach, was Du siehst. Im nächsten Schritt zeichnest Du Linien oder Punkte, die besonders auffällig sind, von der Mitte aus in die Zeichnung.
Jetzt nimmst Du Dir die noch unbearbeiteten Flächen vor und füllst sie nach und nach auf. Die Kanten der Gegenstände kommen dabei als erstes dran. Dabei kannst Du Dich ruhig schon einmal trauen, dich an die Ausarbeitung der hellen und dunklen Bereiche zu wagen. Wie Du das noch besser hinbekommst, erarbeiten wir in einem weiteren Tutorial hier. Heute geht es einzig und alleine um das Thema "Richtiges Sehen für richtiges Zeichnen". Es soll bei dieser Übung klar gemacht werden, was richtiges Sehen heißt und dass das Auge der Hand beim Zeichnen immer die Richtung vorgibt. "Richtiges Sehen" heißt auch immer "Vom Auge zur Hand".
Die Zeichenübung sollte in etwa 30 Minuten dauern und ist auch mit anderen Gegenständen durchführbar. Wichtig ist, dass Du dabei richtiges Sehen lernst und hierzu versuchst Dein Gehirn und Deinen Verstand ein Stück weit auszuschalten.
Eines wirst Du gewiss feststellen: Beim Zeichnen gibt es sicher noch viele Fehler und richtiges Sehen braucht seine Zeit. Aber die Sicherheit kommt mit der Übung beim Zeichnen. Denn Du bist auf dem richtigen Weg zum Ziel. Dem Ziel zeichnen zu lernen.
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